Über den Stolz, ein Deutscher zu sein.
Heute morgen hat mich ein Jude aus Hamburg angerufen. Er hatte sich erst letzte Woche ein relativ großes Tattoo stechen lassen, auf dem Davidsterne, der hebräische Name Deutschlands, Ashkenaz, und ein großer Adler zu sehen waren, der dem des Kaiserreiches nachempfunden war. Er rief an, weil er plötzlich Muffensausen bekommen hatte. Ein Jude mit Reichsadler? In Deutschland? Noch dazu jemand, der in Brasilien aufgewachsen war? Und was, wenn ihn die Leute auf der Strasse für einen Nazi halten würden? Würde er nie wieder in der Öffentlichkeit sein Hemd ausziehen können?
Also hatte er kurzerhand jemanden angerufen, der selbst jüdische Tattoos entwirft und darüber schreibt.
Ich fragte ihn, was der Adler für ihn bedeutete, und er meinte sofort Identität. Und Stolz. Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein.
Ich kenne das Gefühl. Ich bin auch stolz, ein Deutscher zu sein. Und auch ich laufe in Deutschland mit dem latenten Gefühl aber was, wenn mich die Leute für einen Nazi halten? herum.
Ich bin in München und Jerusalem aufgewachsen. Danach habe ich lange Jahre in Rotterdam gewohnt, später in Buenos Aires und seit 2017 lebe ich in Berlin, wo schon mein Urgroßvater gelebt hat, bevor die Hälfte der Familie in Auschwitz blieb, und der Rest in alle Himmelsrichtungen floh. Ich kenne den Stolz (und die Scham), ein Israeli zu sein, intim. Und ich habe den Stolz, Niederländer zu sein und den Stolz Argentinier zu sein, von sehr nah miterlebt. Diese drei Arten, kollektiven Stolz zu fühlen, sind sehr unterschiedlich. Jedes Volk hat so seine Sachen, auf die es stolz ist und die es bewahren will. Um die es kämpfen will und um die es sich betrogen fühlt. Aber alle drei Kollektive fühlen ihren Nationalstolz in einer sehr unberührten und freien Art. Außerdem kenne ich den Stolz, ein Jude zu sein. Und von etwas ferner sehe ich Franzosen, Italienern, Palästinensern, US Amerikanern, Chilenen, Syrern und Kanadiern zu. Jedes Volk und sein Stolz. Jedes Volk und seine kollektiven Gefühle der frohen, manchmal schmerzhaften oder wütenden Zusammengehörigkeit.
Außer den Deutschen.
Die Deutschen sind stolz darauf, nicht stolz zu sein. Das deutscheste, was ich kenne, ist obsessiv nach Gründen zu suchen, warum und inwiefern man eigentlich gar nicht deutsch ist. Oder jedenfalls nicht zu sehr. Und was habe ich schon für private Vorträge darüber gehört, dass das deutsche Volk eigentlich gar nicht existiere, sondern eine Erfindung des 19. Jahrhunderts sei. Ich habe geduldig zugehört und daran gedacht, dass das Judentum als Religion im modernen Sinne zur gleichen Zeit erfunden wurde, dass ich aber noch niemanden getroffen habe, der sich daran aufhängt und behauptet, eine jüdische Religion gäbe es nicht.
Ich verstehe natürlich in gewisser Weise, warum. Ich kann nachvollziehen, wie nach zwei Weltkriegen, Hitler, Auschwitz und 70 Millionen Toten dem Gefühl, das all diesem Leid zu Grunde zu liegen schien, Grenzen gesetzt werden mussten. Und ich kann auch nachvollziehen, wie man behaupten kann, ein Blut-und-Boden-Nationalismus wie der deutsche und der polnische sei nicht mit dem kollektiven Bewusstsein eines Einwanderungslandes wie den USA oder vielleicht auch Frankreichs zu vergleichen.
Also wurde nach 1945 der kollektive Stolz kurzum verboten und Stolz an sich privatisiert und individualisiert. Ab sofort durfte man auf die eigenen Erfolge stolz sein, aber bitte nicht mehr auf die des Volkes. Der Satz Man kann nicht stolz sein auf etwas, was man selber gar nicht zu Stande gebracht hat, klingt nur auf Deutsch kohärent. In jeder anderen Sprache, die ich spreche, knirscht er so zwischen den Zähnen, dass man ganz intuitiv merkt, dass da etwas nicht ganz stimmt. Denn natürlich ist jeder Hinz und Kunz in der argentinischen Pampa auf Maradona stolz, obwohl keiner von ihnen Maradona selber zu Stande gebracht hat. Und ich muss sagen: ein bisschen beneide ich sie um diesen Stolz.
Mir scheint also, als hätten wir vielleicht ein wenig über das Ziel hinausgeschossen.
Erstens schlicht, weil das Projekt, dem deutschen Volk seinen kollektiven Stolz zu verbieten und abzutrainieren, gescheitert ist. Wir haben durch unsere zwanghafte Selbstdefinition als das penibel genaue Gegenteil von allem, was vor ‘45 galt, das Thema des Nationalstolzes einer Gruppe opportunistischer Giftzwerge überlassen, die durch unsere Denkverbote Zulauf bekommen, der ihnen in der Weise gar nicht gebührt.
Würden wir einen weniger harten, weniger obsessiven, paradoxerweise weniger deutschen, Zugang zu unserer eigenen Kollektivität finden, bräuchte es all jene, die wir dann fauler Weise als Nazis bezeichnen, gar nicht. Mit Gaskammern und totalem Krieg kriegt man dieser Tage ja nicht mal eine Montagsdemonstration voll. Also kokettieren AfD und Co. mit der Überschreitung von Grenzen, die nur hierzulande als Grenzen wahrgenommen werden. Trifft das auf ein in diesem Aspekt durch Denkverbote unmündig gehaltenes Volk, ergibt es die gleiche Energie, wie bei einer Kindergartenparty, bei der plötzlich alle Dreijährigen Pupsgesicht und Kackwurst schreien, weil sie wissen, dass das nicht erlaubt ist. Erlaubt man es dann, indem man mitmacht, wird es verdammt schnell ziemlich still.
Und zweitens, positiver, weil die kollektive Identität eines jeden von uns ein wichtiger Teil unseres Selbstverständnis ist. Wir sind die Produkte unserer Geschichten, und zwar nicht nur der persönlichen, sondern mindestens genauso sehr der kollektiven. Produkte unserer Familie, unserer Herkunft, unserer geschichtlichen Zugehörigkeit. Wir denken, wie wir denken, weil Generationen vor uns Pfade im Dickicht der Existenz niedergetrampelt haben und sie uns in Form von Sprache weitergereicht haben. Wir fühlen, wie wir fühlen, weil diese Gefühle kulturspezifisch thematisiert, formuliert und kodifiziert wurden. Wir fühlen also als Deutsche unweigerlich anders, als Argentinier es tun. Und wir denken anders als Leute, die auf Englisch aufgewachsen sind. Wir essen auch anders, leben Familienzusammenhänge anders, lieben anders und bewegen uns anders. Wenn wir Sex haben, haben wir auch als Deutsche Sex und wenn wir uns die Nase putzen, tun wir das so, wie Deutsche es tun. Wir sind in sehr tiefer verwurzelter Weise in unsere kollektive Identität eingebettet, als es uns Radikalindivdualisten manchmal lieb ist. Und diese Identität ist vieles - aber eben vor allem deutsch.
All diese Präferenzen und Neigungen entweder als reinen Individualismus abzutun oder es leicht peinlich berührt, wie ein Nebenprodukt an einer zufälligen und daher irrelevanten Geburt zu ignorieren, ist so unehrlich wie es ungesund ist. Genauso ungesund, wie es wäre, andere Aspekte unserer Identität nicht zu umarmen. Wir wissen das eigentlich und würden keinem Mann, der sich zu Männern hingezogen fühlt, assistieren, er sei auf dem richtigen Pfad, wenn er diesen Aspekt seiner Identität mit auch nur einen Bruchteil des Würgereizes angeht, mit dem der durchschnittliche deutsche Bürger die deutsche Nationalhymne singt - oder eben nicht singt. Klar, homosexualität mag zufällig sein. Das heißt aber nicht, dass sie nicht zu umarmen und zu feiern sei. Mit Stolz. Warum sonst sollte es Pride heißen?
Ich würde all das schlicht als deutsche Eigentümlichkeit lächelnd akzeptieren, würde mir nicht, stets wenn das Thema kollektive Identität in Gesprächen mit Deutschen auftaucht, eine subtile Selbstentfremdung entgegenwehen - unabhängig davon, ob mein Gegenüber von meinem Juden- oder Migrantentum weiss. Und da ich erlebt habe, wie stolze Kollektivität ohne Gewalt und Hass funktionieren kann, würde ich vorschlagen, uns ein wenig von anderen abzugucken.
Vielleicht könnten wir ja damit anfangen, uns im Badezimmer einzuschließen, wenn niemand zu Hause ist, und freundlich lächelnd in den Spiegel sagen: Guten Tag. Ich bin Deutscher. Und darauf bin ich stolz. Ja, ich bin stolzer Deutscher. Unter Umständen werden wir bei den ersten paar Malen der Versuchung, den rechten Arm hochzureißen, und mit knarziger Stimme zu verkünden seit 5:45 wird jetzt zurückgeschossen noch nicht widerstehen können. Aber das legt sich sicher nach einiger Zeit.
Als nächstes könnten wir uns freudig der deutschen Geschichte zuwenden. Wir müssen ja nicht gleich mit den verzwickten Jahren anfangen, obwohl im Endstadium unserer Genesung wohl auch dort Schattierungen zu finden sein könnten - so wie halt überall im Leben. Aber wie wäre es mit dem Kaiserreich? Können wir das Kaiserreich als einen integralen und positiven Teil unserer Vergangenheit und dadurch dialektisch unserer selbst sehen? Einen Teil, mit dessen Werten wir wahrscheinlich nicht komplett übereinstimmen, aber der doch immerhin eine bedeutsame Epoche war, in der viel entstand, das wir auch heute noch lieben. Eine Epoche, ohne die wir nicht jene wären, die wir sind und die unsere ist, wie sie die Commune de Paris nie sein wird.
Und wir könnten uns der deutschen Natur zuwenden. Nicht als „einem Wald“, sondern als „meinen Wäldern“. Wir könnten fühlen, was uns mit diesen Eichen verbindet, mit Olivenbäumen aber vielleicht weniger, auch wenn wir sie vielleicht schöner finden.
Achtung, es geht nicht darum, über Anderem zu stehen. Es geht nicht um Exklusion. Es geht nicht darum, dass das hier mein Wald ist, und darum Ahmet hier bitte nicht wandern darf. Vielmehr geht es um ein internes Gefühl der freudigen Zugehörigkeit, des kollektiven Stolzes, der Verwurzelung in Volk, Kultur und Land. Ein Stolz, der es schafft, dass unser Volk und unser Land uns das liebste mag scheinen, so wie andern Völkern ihrs
Wenn wir das lange genug so zulassen, wird es vielleicht dazu kommen, dass wir uns unserer Selbst nicht mehr in jener Weise latent schämen müssen, die uns schon so zu eigen geworden ist, dass wir sie nicht mehr wahrnehmen, oder sie, noch schlimmer, als Tugend verstehen.
In jenen Endzeittagen wird es auch uns Juden in Deutschland, uns jüdischen Deutschen und deutschen Juden, ganz anders gehen, mit euch biodeutschen Kartoffeln. So wie eine gesunde Partnerschaft am Ehesten zwischen zwei Leuten entsteht, die sich ihrer selbst sicher sind, die wissen wer sie sind und was sie wie wollen, werden wir euch ganz anders in die Augen schauen können, wenn ihr so stolz darauf sein können werdet, Deutsche zu sein, wie wir auf unsere jüdische Geschichte und Identität stolz sind.